Pflege als Profession: Warum sich der Beruf neu erfinden muss
Nur wer die Vergangenheit kennt, versteht, wo wir heute stehen, und kann die Zukunft gestalten. In diesem Sinne tauchen wir ein in eine spannende Geschichte unseres Berufes.
Pflege ist heute aktueller denn je. Während die Gesellschaft von einem Pflegenotstand spricht, beklagt der Berufsstand die mangelnde Anerkennung und die eingeschränkte Autonomie im Vergleich zu anderen Ländern. Doch wie hat sich der Pflegeberuf in Deutschland entwickelt? Tatsächlich gibt es kaum einen anderen Beruf, der sich in den letzten Jahrzehnten so rasant gewandelt hat. Dieser Artikel beleuchtet die Entwicklung der Pflege in Deutschland ab den 1950er Jahren. Er zeichnet den Weg von einer unreflektierten, traditionsgebundenen Pflege zur heutigen evidenzbasierten und reflektierten Pflegepraxis nach. Pflegefachpersonen erkennen heute ihren eigenen Wert, ihre fachliche Kompetenz im Sinne von Wissen Können und Erfahrung. Sie wissen um ihren unverzichtbaren Beitrag zur Gesellschaft Sie sind sich ihrer selbst bewusst. Doch bei alledem kämpfen sie aktuell immer noch um die Erweiterung ihrer Kompetenz im Sinne von Recht und Befugnis.

Ab den 1950er Jahren: Die schweigende Zeit
Die 1950er Jahre waren von Schweigen geprägt. In den Nachkriegsjahren linderten die Pflegenden, mit oder ohne Ausbildung Not und Leid. Eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle während des Nationalsozialismus war noch nicht möglich. Auch die ehemaligen braunen Schwestern blieben stumm. Zu groß war das Entsetzen aus dieser Zeit. Das Berufsverständnis orientierte sich weiterhin, wie vor dem Krieg, an traditionellen Werten wie Gehorsam, Pflichterfüllung und Hingabe. Pflege wurde als weibliche Aufgabe betrachtet und war tief in kirchlichen und wohltätigen Strukturen verankert. Die Ausbildung erfolgte in Krankenhäusern, unter der Aufsicht von Ärzten, und hatte einen stark praktischen Schwerpunkt. Eine systematische, wissenschaftlich fundierte Ausbildung oder gar eine akademische Laufbahn, wie sie seit Beginn des Jahrhunderts bereits in den angloamerikanischen Ländern etabliert war, waren hierzulande noch in weiter Ferne.
Gleichzeitig gab es in den 1950er Jahren einen wachsenden Bedarf an Pflegepersonen, bedingt durch den Wiederaufbau des Gesundheitswesens und die steigende Nachfrage nach medizinischer Versorgung. Die Pflege blieb jedoch weitgehend eine Hilfstätigkeit, oft geprägt von strengen Hierarchien und wenig Entscheidungsfreiheit. Pflege wurde lange als Heil- und Hilfsberuf bezeichnet.
Die 1960er Jahre: Die dienende Zeit
1963 begann ich meine Ausbildung zur Krankenschwester. Damals war die Ausbildung nach dem Krankenpflegegesetz von 1957 auf zwei Jahre begrenzt, gefolgt von einem dritten Jahr zur Anerkennung. Der Pflegeberuf war stark vom Prinzip des Dienens und Unterordnens geprägt. Eigenständiges Denken oder kritisches Hinterfragen waren nicht gefragt – vielmehr galt Gehorsam als oberste Tugend.
Der Unterricht wurde fast ausschließlich von Ärzten gehalten und konzentrierte sich auf medizinische Inhalte. Ich wunderte mich oft über die Themen, die wir lernen mussten. Der chirurgische Oberarzt brachte uns detailliert die Billroth-Operation und ihre verschiedenen Nahttechniken bei. Ich fragte mich insgeheim:
„Sollen wir etwa einmal operieren?“
Vielleicht war es genau dieser Moment, der mich später zur Operationsschwester werden ließ.
Auch der Unterricht in Innerer Medizin folgte diesem Schema. Unser internistischer Oberarzt erklärte uns unter anderem die Symptome der Geschlechtskrankheit Tripper. Eines dieser Symptome sei ein geschwollenes Knie, sagte er. Einige Wochen später kehrte er aus dem Urlaub zurück, setzte sich lässig auf den Tisch, ließ die Beine baumeln und begann zu erzählen – und siehe da, sein Knie war geschwollen. Unauffällig flüsterte ich meiner Banknachbarin zu: „Tripperknie.“ Leider hatte er es gehört. Ich hielt den Atem an und rechnete mit einer schlechten Note. Doch er begnügte sich mit einer Ermahnung: Ich solle nicht so vorlaut sein.
Pflegerische Fertigkeiten eigneten wir uns fast ausschließlich durch praktische Arbeit an. Theoretisches Wissen über systematische Pflege gab es damals noch nicht. Auch war es nicht üblich über unser Pflegehandeln zu reflektieren. Wir machten das so, wie man das immer schon so machte. Die Rolle der Schwester war klar definiert: Wir waren die helfenden Hände der Ärzte. Doch trotz aller Strenge war da ein unausgesprochenes Band zwischen uns Schülerinnen. In den Pausen flüsterten wir uns unsere Gedanken zu, lachten über kleine Anekdoten und unterstützten uns gegenseitig.
Die 1970er Jahre: Die bewegte Zeit
Mit den 1970er Jahren nahm der medizinische Fortschritt an Fahrt auf. Neue Technologien und Behandlungsmethoden revolutionierten die Medizin und beeinflussten auch die Pflege. Die Begeisterung über moderne Medizintechnik wuchs, und neue Aufgabenfelder entstanden. Blut abnehmen, bei Eingriffen assistieren oder intensivmedizinische Maßnahmen unterstützen, das bedeutete für viele Pflegende eine Aufwertung ihres Berufes. Gleichzeitig spaltete sich die Pflege in Grund- und Behandlungspflege, doch ein klares, einheitliches Berufsbild fehlte.
Die ersten großen Herzoperationen wurden möglich, was den Bedarf an gut ausgebildeten Pflegefachpersonen steigerte. Operateure brauchten kompetente Krankenschwestern, die ihre Patienten adäquat versorgen konnten. Ich selbst begeisterte mich für diese neue Disziplin und absolvierte einen der ersten Kurse zur Intensivschwester. Doch nicht überall fand neues Wissen in der Pflege sofort Akzeptanz. Als ich später eine internistische Frauenstation leitete, war es noch üblich, ohne sterile Maßnahmen (man nannte das handsteril) Katheterisierungen durchzuführen. Ich entschied mich, dies zu ändern, und organisierte die notwendigen Materialien. Während ich im Stationszimmer dem Pflegeteam die sterile Technik erklärte, mischte sich unerwartet der Stationsarzt ein. Mit abwertender Miene fragte er: „Schwester Christa, glauben Sie, dass die Vagina steril sei?“ Diese Episode zeigt, wie neue Pflegekonzepte auf Widerstände stießen und dass der Wandel nicht nur fachliches Wissen, sondern auch Durchsetzungsvermögen erforderte.
Die 1970er Jahre waren eine Zeit großer Veränderungen. Die Pflege erweiterte ihr Wissen und entwickelte neues Können, was zugleich Herausforderungen auch für die Medizin mit sich brachte. Die Zusammenarbeit zwischen Ärzt:innen und Pflegefachpersonen musste neu definiert werden, und die zunehmende Professionalisierung der Pflege war nicht immer unumstritten. Doch trotz aller Hürden legte diese Ära den Grundstein für eine Pflege, die erkannte, dass sie sich weiterentwickeln wollte. 1973 wurde der Agnes Karll Verband (1903) umbenannt in: Deutscher Berufsverband für Krankenpflege (DBfK). Heute der größte Berufsverband.
Die 1980er Jahre: Die suchende Zeit
In der suchenden Zeit der 1980er Jahre war das Berufsverständnis auf der Suche und stellte Fragen: Was ist Pflege? Es begannen die Anfänge einer Neuorientierung. Pflegetheorien aus der angloamerikanischen Pflege, die längst professionalisiert und akademisiert war, schwappen nach Deutschland. Diese fanden Eingang in Aus- und Weiterbildungscurricula. Allerdings ließen sie sich nicht in die Praxis ohne weiteres in unser deutsches Pflege- und Gesundheitssystem integrieren. Man suchte nach einem eigenen Pflegeverständnis.
Das erforderte intensive Prozesse, denn unsere deutsche Pflege hatte das Erbe der christlich-abendländischen Kultur im Gepäck. Historisch gewachsene Strukturen, die stark von einem fürsorglichen, oft religiös geprägten Selbstverständnis bestimmt waren, standen einer Modernisierung und Akademisierung zunächst im Weg. Das Berufsbild war von handwerklichen Strukturen geprägt und Pflegende beschrieben ihren Beruf immer noch mit den Attributen von Tätigkeiten.
Die ersten Pionierinnen der Pflegeforschung begannen ihre Suche nach einer wissenschaftlichen Fundierung des Pflegehandelns. Pflegehandeln wurde reflektiert, erste Studien zu pflegerelevanten Themen entstanden. Gleichzeitig wuchs das Bewusstsein für die Notwendigkeit, Pflege nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch zu untermauern. Die Professionalisierung nimmt langsam Fahrt auf, doch es blieb ein langer Weg, bis sich ein eigenständiges Pflegeverständnis in Deutschland entwickelte.
Die 1990er Jahre: Die kämpfende Zeit
In den 1990er Jahren begannen Pflegende, sich stärker mit ihren eigenen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Das Berufsverständnis erwachte. Pflege wurde aufmerksam und wach gegenüber ihren eigenen Interessen. Zwar zum Wohle des Patienten, jedoch auch im Sinne des eigenen Berufsstandes. Man kämpfte um den Zugang in die Hochschulbildung, vorerst nur mit Professionalisierungsbestrebungen in Leitungs- und Lehrfunktionen. Der Durchbruch gelangt mit Unterstützung von außen. Die Robert-Bosch-Stiftung förderte mit ihrem Programm die Akademisierung der Pflege. Hochschulen verzeichneten einen Rückgang der Studienbewerber und wurden daher offen für neue Studiengruppen aus der Pflege. Pflege selbst wurde sich erst sehr langsam ihres Wertes bewusst. Immerhin waren die Steine ins Rollen gebracht und nicht mehr aufzuhalten.
Parallel dazu entstanden erste Netzwerke und Berufsverbände, die sich für die Belange der Pflege starkmachten. Veranstaltungen, Tagungen und Publikationen trugen zur Verbreitung des neuen Selbstverständnisses bei und ließen sich von erfolgreichen Professionalisierungsprozessen im Ausland inspirieren. Diese Vernetzung führte zu einem stetigen Austausch und förderte die Entstehung einer gemeinsamen Identität. Trotz vieler Widerstände wuchs das Bewusstsein dafür, dass Pflege nicht nur eine Berufung, sondern eine eigenständige, wissenschaftlich fundierte Profession werden kann.1990 wird das Agnes Karll Institut für Pflegeforschung gegründet. 1998: Gründung des Deutschen Pflegerates (DPR), er vertritt derzeit 1,7 Millionen professionell Pflegende.
Die 2000er Jahre: Die erkennende Zeit
In der erkennenden Zeit der 2000er Jahre gelingt es der Pflege in den Hochschulen anzukommen. Pflegeforschung bringt die ersten Ergebnisse, die den Wert der Pflege sichtbar machen. Pflegepionierinnen gelingt es, auch das grundständige Bachelor Pflegestudium an den Hochschulen zu etablieren. In der Praxis wird die Notwendigkeit der Weiterentwicklung erkannt. Pflegende erkennen ihre Selbstwirksamkeit: Sie erreichen etwas und können darauf aufbauen. Die Erkenntnis der eigenen beruflichen Kompetenzen stärkt das Selbstbewusstsein und motiviert dazu, neue Wege zu gehen.
Die Forschung liefert zunehmend Evidenz für die Wirksamkeit pflegerischer Interventionen, was nicht nur die Praxis, sondern auch die politische Wahrnehmung verändert. Pflegewissenschaftler*innen arbeiten in interdisziplinären Teams und tragen zur Verbesserung der Patientenversorgung bei. Gleichzeitig entstehen neue Karrierewege, die es ermöglichen, Forschung und Praxis zu verbinden. Masterstudiengänge ermöglichen Karriere. Die Einführung von Pflegekammern und die stärkere Beteiligung an gesundheitspolitischen Debatten zeigen, dass Pflege langsam, aber sicher, als unverzichtbare Säule des Gesundheitssystems anerkannt wird. So wird die erkennende Zeit zur Basis für eine Zukunft, in der Pflege sich zunehmend aktiv einbringt.
Die 2010er Jahre: Die vorwärts drängende Zeit
In der vorwärts drängenden Zeit zwischen 2010 und 2020 ist bereits ein Berufsverständnis vorhanden. Pflegende entwickeln ein tieferes Bewusstsein für die Bedeutung ihres Berufes und für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Es werden neue Pflegekonzepte und Expertenstandards entwickelt. Im Berufsverständnis wird man sich der Bedeutung von Autonomie bewusst. Die erste Pflegekammer entsteht in Rheinland Pfalz 2016. Ein neues Pflegeberufegesetz (PflBG) wird erarbeitet. Darin sind die Vorbehaltsaufgaben festgelegt – ein Novum der deutschen Pflege. Diese Erfahrungen geben Kraft und Stärke für die nächste Stufe der Pflegeidentität. Das Gesetz tritt 2020 in Kraft.
Mit der zunehmenden Akademisierung der Pflege wächst auch die wissenschaftliche Fundierung des Berufes. Forschungsergebnisse beeinflussen die Praxis, evidenzbasierte Pflege setzt sich immer mehr durch. Digitalisierung und technische Innovationen verändern den Arbeitsalltag, fordern aber auch eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Kompetenzen. Gleichzeitig wächst das gesellschaftliche Bewusstsein für die Relevanz der Pflege, was sich in politischen Diskussionen und Reformen widerspiegelt.
Die 2020er Jahre: Die sich ihrer selbst bewussten Zeit
In der sich ihrer selbst bewussten Zeit der 2020er Jahre haben viele professionell Pflegende ihre Identität gefunden und sind selbstbewusst. Was ist der Quantensprung in diesen Jahren? Pflegefachpersonen werden sich ihres Wertes bewusst, Pflege wird als existenzrelevant erkannt, offenbart durch die Corona-Krise. Pflege wird sich ihrer Position innerhalb des Gesundheitswesens bewusst, verstärkt durch den Pflegenotstand.
Pflege ist ein Heilberuf, diese Anerkennung erfolgt durch die Politik. Pflege braucht kein Heilkundemandat durch Ableitung von medizinischen Diagnosen. Pflege ist Heilkunde, rechtlich begründet im Pflegeprozess. Die Profession etabliert sich als eigenständige Disziplin und wird zunehmend als unverzichtbarer Bestandteil eines funktionierenden Gesundheitssystems anerkannt. Blicken wir mit dem Fokus der Bewusstseinsentwicklung auf die Zeitepochen der Berufsidentität, erkennen wir deutlich die Bewegung von unreflektiert zu reflektiert und von unbewusst zu bewusst. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen – die kommenden Jahre werden zeigen, wie Pflege ihre Position weiter festigt und sich als unverzichtbare, gleichberechtigte Profession im Gesundheitswesen etabliert.
Zum Ausblick eine Vision
Die Zukunft der Pflege wird eine spirituelle sein oder sie versinkt in der Bedeutung von Materie und Körper. Im ureigenen Pflegeverständnis wird der Mensch als Einheit von Körper, Seele und Geist gesehen. In unseren heutigen Gesundheitsstrukturen sind Pflegende gezwungen, meistens nur noch den Körper zu versorgen. Das könnte ein Grund für das Leid der Pflege selbst sein, sowie des kranken Gesundheitswesens. Wird das erkannt, so erwächst daraus ein Potential der Veränderung. Die geistige Dimension von kranken und gesunden Menschen ist lebensnotwendig, sie wird wieder mit mehr Bewusstseinsentwicklung zutage treten. Pflege wird einen entscheidenden Beitrag dazu leisten. Allerdings ist auch die Verantwortung jeder einzelnen Person in unserer Gesellschaft dazu notwendig. Als gemeinsame Verantwortung wird sich unsere Gesellschaft hin zu mehr Menschlichkeit entwickeln. Denn schließlich haben wir alle das Recht auf ein Leben in Achtung und Würde.
Als wir nur tüchtige Mädchen waren

Wie wir die Seele der Pflege verstehen
Christa Olbrich hat das Thema Pflege im Laufe ihres Lebens und Berufslebens aus nahezu jeder denkbaren Perspektive erlebt, reflektiert, gestaltet und als Pflegepionierin mutig vorangebracht. Verwoben mit der Geschichte ihres außergewöhnlichen Berufswegs erzählt sie eine lebendige Zeitgeschichte des Pflegeberufs und der Frauenemanzipation seit den 50er Jahren. Stück für Stück entfaltet sie, was unsere persönliche Entwicklung als Mensch und unser berufliches Selbstverständnis im tiefsten Innern ausmachen.
Spannend, höchst erhellend und mit einer kraftvollen Vision für unser aller Zukunft.
Olbrich, Christa (2025) Als wir nur tüchtige Mädchen waren. Wie wir die Seele verstehen. Wermeling Münster
Olbrich, Christa (2023) Pflegekompetenz. 4. Aufl., Hogrefe Bern
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