Eine neue Perspektive auf Pflege

Pflege ist mehr als Waschen, Lagern und Medikamentengabe. Pflege ist Beziehung, Kommunikation, Begleitung – und sie berührt zutiefst intime Lebensbereiche. Trotzdem bleiben Themen wie Sexualität, Identität oder queere Lebensrealitäten im pflegerischen Alltag häufig unsichtbar. Nicht, weil sie nicht existieren, sondern weil sie nicht thematisiert werden – aus Unsicherheit, aus Unwissen oder aus einem tief verankerten Tabu.

"Wir glauben, dass Pflege viel mehr kann, wenn sie bereit ist, über das zu sprechen, was sonst verschwiegen wird."
- Judith Burgmeier

Judith und Hannah Burgmeier stellen sich dieser Leerstelle entgegen. Mit ihrem Pflegedienst vielfältig haben sie den ersten queersensiblen ambulanten Dienst Deutschlands gegründet. Ihr Ansatz: Sexualität und geschlechtliche Vielfalt gehören selbstverständlich zur pflegerischen Versorgung. Sie wollen nicht nur Pflege bieten, sondern auch Räume schaffen – für Themen, die sonst keinen Platz finden. In der Übergabe sprechen sie über ihre Motivation, ihren beruflichen Weg und darüber, wie queersensible Pflege ganz konkret aussieht.

Warum Vielfalt in der Pflege nicht optional ist

Sexualität ist ein Grundbedürfnis – wie Essen, Trinken oder Nähe. Trotzdem wird sie in pflegerischen Kontexten oft ausgeblendet. Besonders queere Menschen erleben im Gesundheitswesen regelmäßig Diskriminierung oder Unsichtbarkeit. Studien zeigen: Viele verschweigen ihre Identität gegenüber Pflegefachpersonen, aus Angst vor Ablehnung oder schlechterer Behandlung.

"Sexualität ist kein Tabuthema, sondern ein Pflegebedarf. Und den müssen wir ernst nehmen."
- Hannah Burgmeier

"vielfältig." will genau hier ansetzen. Der Pflegedienst richtet sich nicht ausschließlich an queere Klient:innen – sondern an alle Menschen, die sich eine sensible, offene und wertschätzende Pflege wünschen. Die beiden Gründerinnen verknüpfen pflegewissenschaftliches Know-how, sexualwissenschaftliche Kompetenz und gelebte Berufserfahrung mit einer klaren Haltung: Jeder Mensch verdient eine Pflege, die ihn oder sie in der eigenen Lebensrealität ernst nimmt.

Pflege, Beratung und Bildung: Drei Säulen für eine neue Versorgung

"vielfältig." ist mehr als ein klassischer Pflegedienst. Das Angebot basiert auf drei Säulen: Pflege, Beratung und Fortbildung.

  1. Pflege im häuslichen Umfeld: Menschen mit Pflegebedarf werden im Alltag unterstützt – mit einem Fokus auf Kommunikation, Beziehung und das Einbeziehen von Sexualität als Teil des Lebens. Dazu gehören auch Fragen zur Intimpflege nach geschlechtsangleichenden Operationen oder die korrekte Medikamentengabe bei hormonellen Behandlungen.
  2. Paar- und Sexualberatung: Gerade wenn chronische Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit oder neurologische Einschränkungen wie Parkinson ins Leben treten, verändern sich Beziehung und Sexualität oft gravierend. Mit ihrem Beratungsangebot bieten Judith und Hannah niedrigschwellige Unterstützung – aktuell noch als Privatleistung, mit dem Ziel, das langfristig in die Regelversorgung zu integrieren.
  3. Fortbildung für Einrichtungen: Die dritte Säule ist Aufklärung. Krankenhäuser, Pflegeheime oder Hospize können Workshops buchen, in denen Teams für Themen wie queere Lebensrealitäten, Diskriminierung oder sexualisierte Gewalt sensibilisiert werden. Ziel ist es, Sprache zu finden, Unsicherheiten zu reduzieren und Handlungssicherheit zu stärken.

Zwischen Haltung und Handlung: Wie queersensible Pflege gelingt

Queersensible Pflege beginnt nicht mit einem Flyer in Regenbogenfarben – sie beginnt mit Haltung. Für das Team von "vielfältig." bedeutet das, Menschen nicht auf ihre Pflegebedürftigkeit zu reduzieren, sondern sie ganzheitlich zu sehen: mit ihrer Geschichte, ihren Werten, ihren Beziehungen – und eben auch ihrer Sexualität.

Dabei wird klar: Die Lebensrealitäten queerer Menschen bringen spezifische Bedarfe mit sich. Viele haben bereits Diskriminierung im Gesundheitswesen erlebt. Manche leben mit den Folgen von Ausgrenzung oder internalisierter Scham. Andere haben durch geschlechtsangleichende Maßnahmen oder HIV-Therapien besondere pflegerische Anforderungen. All das verlangt Wissen – und vor allem ein offenes, fragendes Gegenüber.

"vielfältig." arbeitet mit erweiterten Anamnesebögen, die gezielt Raum für geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung schaffen. Statt binärer Kategorien oder peinlicher Ausweichfloskeln geht es um echte Gespräche auf Augenhöhe. Pflegefachpersonen werden dazu ermutigt, Unsicherheiten zu benennen, Fragen zu stellen und von den Patient:innen selbst zu lernen.

Fachwissen statt Floskeln: Pflege braucht neue Inhalte

Neben Haltung braucht queersensible Pflege auch handfestes Fachwissen. Was passiert im Körper bei einer Transition? Wie sieht die richtige Intimpflege nach einer operativen Geschlechtsangleichung aus? Welche Medikamente beeinflussen die Libido? Wie gehe ich mit Menschen um, die sich weder als Mann noch als Frau definieren?

In der klassischen Pflegeausbildung kommen solche Fragen kaum vor – bislang. Judith und Hannah setzen sich aktiv dafür ein, dass Themen wie geschlechtliche Vielfalt, sexuelle Identität und Intimität im Curriculum verankert werden. Mit Erfolg: Sie wurden bereits zur Mitarbeit am neuen Primärcurriculum angefragt, das die Grundlage für Pflegeausbildungen in Deutschland bildet.

Gleichzeitig zeigen sie in Fortbildungen, dass es nicht um Perfektion oder Fachbegriffe geht – sondern darum, offen und sensibel zu sein.

Wer bei den Begrifflichkeiten manchmal auf dem Schlauch steht, findet hier eine gute Übersicht um den Überblick zu behalten:

Glossar | Queer Lexikon

Wenn Schweigen krank macht: Warum Pflege Räume öffnen muss

Ein wesentliches Ziel von "vielfältig." ist es, Räume zu öffnen. Räume für Gespräche über das, was sonst oft verschwiegen wird: sexuelle Bedürfnisse, Unsicherheiten, Rollenbilder oder Schamgefühle. Denn gerade in der Pflege zeigen sich diese Themen in verdichteter Form: Menschen sind in ihrer intimsten Lebenssituation auf Hilfe angewiesen – körperlich, emotional, existenziell.

Die Gründerinnen berichten von Fällen, in denen Pflegefachpersonen nicht wussten, wie sie mit einer spontanen Erektion bei einem Patienten umgehen sollen. Statt professionell zu reagieren, wird peinlich berührt weggeschaut oder im schlimmsten Fall schambehaftet agiert. Dabei geht es nicht um Sexualisierung der Situation – sondern um professionelle Intimität. Und die beginnt mit Sprachfähigkeit.

"vielfältig." zeigt hier praxisnahe Lösungen: von Formulierungen in der Dokumentation bis hin zu konkreten Handlungsstrategien in sensiblen Situationen. Ziel ist, dass Pflegefachpersonen nicht mehr sprachlos sind – sondern handlungsfähig.

Pflege als politisches Projekt

Sexualität ist politisch. Pflege ist politisch. Und "vielfältig." versteht sich als explizit politischer Akteur im Gesundheitswesen. Denn queersensible Pflege ist nicht nur eine fachliche Aufgabe, sondern eine gesellschaftliche Haltung.

"Queersensible Pflege ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Für alle, die in ihrer Lebensrealität gesehen werden wollen."
- Judith Burgmeier

Die gesellschaftlichen Entwicklungen machen das deutlich: ein wiedererstarkender Konservatismus, queerfeindliche Tendenzen in sozialen Netzwerken, Angriffe auf sexuelle Selbstbestimmung. In diesem Kontext ist jeder Raum, in dem offen über Sexualität gesprochen werden darf, ein Raum des Widerstands.

"vielfältig." zeigt, dass es Alternativen gibt. Dass Pflege auch ein Schutzraum sein kann. Und dass es Mut braucht, bestehende Normen zu hinterfragen. Ihre Arbeit ist ein Beitrag zur Demokratisierung von Gesundheitsversorgung – und ein Zeichen dafür, dass Vielfalt kein Risiko, sondern eine Ressource ist.


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Frankfurt University of Applied Sciences bietet ebenfalls Pflege-Studiengänge an, die haben wir in unserer Liste noch nicht vollständig erfasst, z.B. Berufspädagogik für Pflege und Gesundheitsberufe oder Management Pflege und Gesundheit: Studiengänge am Fachbereich 4