Gewalt reduzieren, Beziehungen stärken – ein System verändert sich

Gewalt und Zwangsmaßnahmen gehören zu den kritischsten Themen in der psychiatrischen Versorgung. Während international bereits seit Jahrzehnten an Strategien zur Gewaltvermeidung gearbeitet wird, hinkt Deutschland vielfach hinterher. Doch das ändert sich langsam – unter anderem dank eines Konzepts, das aus Großbritannien stammt und derzeit mehr Aufmerksamkeit denn je erhält: SafeWards.

Was zunächst wie ein weiteres Deeskalationstraining klingen mag, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als tiefgreifende, komplexe Intervention mit nachhaltigem Kulturwandelpotenzial. Denn SafeWards verändert nicht nur Abläufe, sondern Haltungen – und das multiprofessionell, interdisziplinär und evidenzbasiert.

Was ist SafeWards – und was ist es nicht?

SafeWards bedeutet übersetzt „sichere Stationen“. Entwickelt wurde das Modell vom britischen Pflegewissenschaftler Len Bowers, der am Institute of Psychiatry in London forschte. Ziel war es, die Ursachen für Gewalt auf psychiatrischen Akutstationen systematisch zu untersuchen – und daraus praktische Maßnahmen abzuleiten.

Dabei ist SafeWards kein reines Pflegekonzept, sondern adressiert das gesamte Team: Pflegefachpersonen, Ärzt:innen, Sozialarbeiter:innen, Therapeut:innen und alle weiteren Beteiligten. Der Fokus liegt auf Prävention, Haltung und Kommunikation. SafeWards ist also keine neue Methode zur körperlichen Abwehr von Gewalt, sondern zielt darauf ab, dass es gar nicht erst zur Eskalation kommt.

Ursachen für Eskalation: Sechs Krisenherde

Das Modell identifiziert sechs Ursprungsfaktoren, die zu Aggression und Gewalt führen können:

  1. Team und Strukturen: Personalmangel, Überlastung, mangelnde Ausbildung oder widersprüchliche Regeln fördern Stress und Unsicherheit.
  2. Räumliche Umgebung: Überfüllte Stationen, schlechte Gestaltung, fehlende Privatsphäre oder geschlossene Türen erzeugen Unruhe.
  3. Einflüsse von außen: Schlechte Nachrichten, familiäre Krisen oder existenzielle Verluste wirken in den Stationsalltag hinein.
  4. Eigenschaften der Patient:innen: Vorangegangene Lebenserfahrungen, insbesondere mit Gewalt, können Reaktionen beeinflussen.
  5. Symptomatik und Gruppendynamik: Konflikte innerhalb der Patient:innengruppe bergen Eskalationspotenzial.
  6. Stationäre Kultur und Kommunikation: Hierarchien, Intransparenz und mangelnde Begegnung auf Augenhöhe sind weitere Risikofaktoren.

Diese Faktoren wirken oft ineinander und verstärken sich gegenseitig. SafeWards setzt genau hier an – mit Interventionen, die auf Beziehungsarbeit, Transparenz und Mitbestimmung beruhen.

„SafeWards arbeitet zu 70 % mit dem Personal – und nur zu 30 % mit den Patient:innen.“ – Prof. Michael Schulz

Zehn Interventionen, die Haltung verändern

SafeWards umfasst zehn Interventionen, die systematisch eingeführt werden. Jede für sich klingt einfach – gemeinsam verändern sie das Miteinander auf Station nachhaltig:

  • Gegenseitige Erwartungen klären: Patient:innen und Team entwickeln gemeinsam Regeln und Erwartungen. Das verhindert Missverständnisse.
  • Sich kennenlernen: Mitarbeitende stellen sich persönlich vor – mit Hobbys, Lieblingsessen, Musikgeschmack. Auch Patient:innen schreiben auf, was sie mögen. Das schafft Verbindung.
  • Positive Sprache: Es wird gezielt an wertschätzender, ressourcenorientierter Kommunikation gearbeitet.
  • Unterstützungskonferenzen: Patient:innen unterstützen sich gegenseitig. Das stärkt die Gemeinschaft.
  • Umgang mit schlechten Nachrichten: Diese werden vorausschauend begleitet, um Eskalationen zu vermeiden.
  • Sicherheitsgefühl stärken: Die Station bietet bewusst Ansprechbarkeit – z. B. durch einen "Flurdienst".
  • Würdige Verabschiedung: Patient:innen hinterlassen positive Botschaften für nachfolgende Mitpatient:innen.
  • Gemeinsame Reflexion im Team: Personal tauscht sich regelmäßig über Kommunikation und Prozesse aus.
  • Vermeidung unnötiger Regeln: Viele stationäre Regeln werden infrage gestellt – zugunsten von Flexibilität und individueller Aushandlung.
  • Deeskalationskultur als Haltung: Nicht das Verhalten der Patient:innen, sondern das eigene Handeln steht im Fokus.

Wandel beginnt im Team – und in der Leitung

Ein zentrales Prinzip von SafeWards: Nicht die Patient:innen müssen sich ändern, sondern das professionelle Verhalten auf Station. Prof. Michael Schulz bringt es auf den Punkt: In 70 % der Fälle liegt die Ursache für Eskalationen im Verhalten des Teams.

Das bedeutet auch: SafeWards funktioniert nur, wenn alle mitziehen. Das setzt intensive Schulungen, klare Kommunikation und vor allem: die Rückendeckung des Managements voraus. In Deutschland ist das Modell deshalb eine „Top-down“-Entscheidung. Klinikleitungen müssen bereit sein, Verantwortung neu zu denken – und auch, Risiken auszuhalten. Denn Öffnung bedeutet auch, Kontrolle loszulassen.

Erfolg mit Folgen: Wie sich Stationen verändern

Studien zeigen: Die Einführung von SafeWards führt zu einer deutlichen Reduktion von Zwangsmaßnahmen und Aggressionsvorfällen.

Beispiel: Die Stationen des St. Urban Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg, Teil der Charité, konnten durch SafeWards ihre Vorfälle drastisch reduzieren – und das bei gleichbleibendem Patient:innenklientel.

Auch das Sicherheitsgefühl stieg: Bei Patient:innen wie bei Mitarbeitenden. Der Essener Stationsklimabogen, ein standardisierter Erhebungsbogen, zeigt dabei Verbesserungen in den Bereichen Beziehungsqualität, wahrgenommene Sicherheit und Teamklima.

„Es reicht ein Blick auf den Dienstplan, um zu wissen, ob es heute eskaliert.“ – Prof. Michael Schulz

SafeWards als Brücke zur Recovery

Das SafeWards-Modell ist eng verwandt mit dem Recovery-Konzept – der Idee, dass psychische Genesung individuell, selbstbestimmt und nicht immer „heilbar“ ist, aber in jedem Fall Unterstützung auf Augenhöhe braucht.

Prof. Schulz betont: SafeWards ist „operationalisierte Recovery“. Das bedeutet: Die Grundidee von Recovery wird durch klare Maßnahmen im Stationsalltag lebbar gemacht. Und zwar für alle – nicht nur für Pflegefachpersonen, sondern auch für Ärzt:innen, Therapeut:innen und Sozialarbeiter:innen.

Vom Projekt zur Kulturveränderung

Die Einführung von SafeWards dauert etwa ein Jahr. Dann sind alle zehn Interventionen implementiert. Doch der Prozess endet nicht dort. Denn SafeWards ist keine Maßnahme, sondern eine Haltung. Es geht um habitualisiertes Verhalten im Team, um eine Kultur der Offenheit, des Dialogs und der kontinuierlichen Reflexion.

Stationen, die langfristig mit SafeWards arbeiten, entwickeln häufig Folgeprojekte: Patient:innenbeteiligung, Einsatz von Genesungsbegleiter:innen oder neue Konzepte für die Ausbildung von Pflegefachpersonen.

Grenzen und Potenziale

SafeWards ist keine Allzwecklösung. Es ersetzt keine Therapie und kann strukturelle Probleme wie Personalnot oder bauliche Mängel nicht aufheben. Doch es kann helfen, den Handlungsspielraum innerhalb bestehender Systeme besser zu nutzen.

Und: SafeWards funktioniert besonders gut dort, wo Teams bereit sind, sich selbst infrage zu stellen – wo Leitungspersonen Führung nicht als Kontrolle, sondern als Ermöglichung verstehen.

Vernetzen, lernen, reflektieren

SafeWards lebt vom Austausch. Es gibt internationale Netzwerke, einen aktiven Facebook-Channel und regelmäßige SafeWards-Treffen im deutschsprachigen Raum. Stationen, die das Modell einführen, werden ermutigt, sich zu öffnen – auch für Besuch und kollegiale Hospitation.

Auch die LWL-Kliniken in Gütersloh laden Interessierte ein, sich vor Ort ein Bild zu machen. Denn nichts wirkt stärker als erlebte Veränderung.

Fazit: Menschlichkeit ist keine Schwäche

SafeWards zeigt, dass gute psychiatrische Versorgung nicht durch Zwang entsteht, sondern durch Beziehung. Es ist ein Modell, das Professionalität nicht über Distanz definiert, sondern über Nähe, Reflexion und Haltung.

In einer Zeit, in der Pflegefachpersonen unter wachsendem Druck stehen und psychiatrische Versorgung oft als besonders herausfordernd gilt, ist SafeWards nicht nur eine Antwort auf Gewalt – sondern auf die Frage, wie wir Pflege menschlich, sicher und zukunftsfähig gestalten wollen.