Zwangsmaßnahmen und Macht in der Psychiatrie aus der Sicht von ehemaligen Patient:innen
#8| 13.07.2023
Neue Woche – neues Briefing. Fritz Sterr schaut in die Psychiatrie und hat eine sehr interessante Studie für Dich zusammengefasst. Es geht um Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie. Eine Studie aus Belgien hat untersucht, welche Auswirkungen diese Maßnahmen auf ehemalige Patient:innen haben. Und auch wenn der Fokus auf die Psychiatrie gerichtet ist, kann man viel für die Praxis im Krankenhaus oder der Langzeitpflege mitnehmen. Man denke nur an die zahlreichen Fixierungsmaßnahmen, die täglich stattfinden…
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Zusammengefasst von
Studien-Charakteristika
- Autor:innen: Evi Verbeke, Stijn Vanheule, Joachim Cauwe, Femke Truijens, Brenda Froyen
- Jahr: Januar 2019
- Land: Belgien
- Design: Qualitative Studie mit Tiefeninterviews und interpretativer phänomenologischer Analyse
- DOI: https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2019.01.031
Was war das Ziel der Studie?
Es soll ein Modell vorgestellt werden, das die Beziehungsaspekte während Zwangsmaßnahmen auf Basis der Aussagen von Patient:innen zusammenfasst.
Warum ist das wichtig?
Zwar scheinen die Auswirkungen von Zwangsmaßnahmen auf die Patient:innen mittlerweile vielseitig erforscht, aber die Beziehung zwischen Versorgenden und Patient:innen ist bisher kaum beschrieben. Diese hat aber in der Versorgung von Menschen mit psychiatrischer Veränderung eine zentrale Rolle inne.
Warum hast du diese Studie gewählt?
Die Arbeit von Verbeke et al. 2019 macht deutlich, welchen besonderen Stellenwert die Beziehungsgestaltung während Zwangsmaßnahmen hat. Die Schilderungen der Betroffenen in der Studie sind sehr eindrücklich und sensibilisieren die Leser:innen hinsichtlich ihrer Bedarfe. Das vorgestellte Modell wirkt in sich schlüssig und anschlussfähig für weitere Untersuchungen und die Versorgungspraxis.
Erläuterung des Kernthemas
Patient:innen, die während einer psychischen Krise akutstationär versorgt werden, sind nicht selten mit Zwangsmaßnahmen konfrontiert. Diese können von der Unterbringung auf einer geschützten Station über die Zwangsmedikation oder räumliche Isolation bis hin zur mechanischen Fixierung an einem Bett reichen. All diese Zwangsmaßnahmen können erwiesenermaßen bei den Betroffenen zu Angstzuständen, Distress, Wut, Traumatisierung oder Gefühlen von Entmenschlichung führen.
Was wurde untersucht?
Den Teilnehmenden wurden nach ihrem Aufenthalt in Tiefeninterviews offene Fragen zu den Themen Macht und Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie gestellt. In der Auswertung der Interviews wurde der Fokus vor allem auf die Beziehungsgestaltung während der Zwangsmaßnahmen gelegt.
Was wurde herausgefunden?
- Während Zwangsmaßnahmen entsteht für viele Patient:innen ein starkes Gefühl von Trennung. Sie werden ausschließlich als Patient:in gesehen. Daraus resultiert die De-Subjektivierung von Patient:innen und zugleich des Personals.
- Aspekte, die sie als Menschen auszeichnen, werden übergangen und ignoriert.
- Es erfolgt eine Reduktion auf das Krankheitsmoment. Macht(gebrauch) wird insbesondere in Interaktionen verortet und äußert sich durch unterbrochenen Kontakt, Stille und das „Sich-fügen-müssen“ während der Zwangsmaßnahmen.
- Als zentraler, fördernder Faktor wird die menschliche und individuelle Begegnung in diesen Situationen beschrieben.
Wie verlässlich sind die Ergebnisse?
Insgesamt wurden 12 Patient:innen befragt, die über ihre Erfahrungen im Nachhinein berichtet haben. Der Umfang an Teilnehmenden sowie der zeitliche Abstand sind in dieser Studie als Limitation anzusehen. Auch handelt es sich um eine belgische Studie. Da sich deren Gesundheitssystem von unserem unterscheidet, können die Ergebnisse nicht 1:1 übertragen werden.
Wie lassen sich diese Ergebnisse für die Praxis nutzen?
- In der Praxis gilt es die an der Versorgung beteiligten Personen hinsichtlich der Bedarfe der Betroffenen zu sensibilisieren.
- Pflegende und andere Professionen müssen sich ihrer eigenen Rolle und Verantwortung in diesen Situationen bewusst sein.
- Im Gespräch mit den Betroffenen können die Bedarfe eruiert werden.
- Die menschliche und individuelle Begegnung von Patient:innen ist von großer Bedeutung.
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